Personbezogene Begabungsförderung zwischen Selbstgestaltung und Bildungsauftrag
Ausgehend davon , dass die Transformation von Potenzialen in Hochleistung wesentlich auch vom Willen (Volition) und den persönlichen Einstellungen des einzelnen Begabten abhängig ist, rücken Aspekte der Selbststeuerung und der Selbstsorge in den Fokus der Begabtenförderung. Mit dem «ökologischen Begabungsmodell» wird – als Konsequenz zu den vorangehenden Ausführungen zum personorientierten Lernen – dem Individuum eine selbstbewusste Position als unverfügbare, eigenständige und eigenverantwortlich entscheidende Persönlichkeit zugestanden und zugemutet, die zu ihrer Umwelt in Beziehungen tritt.
Dabei befinden sich sowohl die Person wie deren Umwelt in steter Bewegung. In dynamischen Prozessen wirken sie wechselseitig aufeinander ein und verändern resp. definieren sich immer wieder neu in gegenseitiger Bedingtheit. Das Modell verdeutlicht die Ökologie zwischen der Selbststeuerung begabter Menschen mit ihrem Selbstverständnis, ihren Fähigkeiten zur Selbstgestaltung und Möglichkeiten zur Autonomie und den von außen an sie herantretenden unterschiedlichen Bildungsansprüchen und Fördermöglichkeiten.
Als erziehungswissenschaftliches Modell will es den Blick auf eine fundierte Pädagogik und Didaktik der Begabungsförderung und auf die Bedingungsfaktoren begabungsfördernder Lernprozesse und Bildungsstrukturen eröffnen. Es verweist auf zentrale Aspekte zur Begabungsentwicklung, die aufgrund der Lern- und Expertiseforschung als relevant erachtet werden bei der Umsetzung individualisierter und sozial wertegeleiteter Begabungsförderung.
Erste Ebene: Eigensinn, Selbststeuerung und Erziehungseinflüsse im Dialog
Das Modell bezieht sich in seiner systemischen Grundlegung auf die ökologische Entwicklungstheorie nach Bronfenbrenner mit seiner Systemorientierung an Mikro, Meso- und Makros- und Chronosystemen, die Entwicklungen von Menschen, deren Fähigkeiten und Einstellungen beeinflussen (Bronfenbrenner 1981).
Die Person mit den ihr zur Verfügung stehenden Dispositionen und angelegten Potenzialen steht im Zentrum ihrer Entwicklung. Dabei wird davon ausgegangen, dass Lernen dann stattfindet, wenn es dem Lernenden sinn-voll und bedeutsam erscheint. Lernen beruht – in Übereinstimmung mit den Theorien zur Motivation – auf Eigensinn, auf Entscheiden des Individuums, ob ihm etwas bedeutsam erscheint resp. Sinn ergibt. Es wird unterstellt, dass Lernende in der Regel grundsätzlich sowohl über einen eigenen Willen wie über Fähigkeiten zur Selbstsorge und Bedürfnisse zur Selbstwirksamkeit verfügen.
Die Person ist umgeben von ihrer soziokulturellen Umwelt (Mesosystem). Diese umfasst primär ihre Familie, die über eigene Wertvorstellungen verfügt, aber auch Werte mit einer bestimmten soziokulturellen, politischen und/oder beruflichen Schicht teilt. Darüber hinaus sind Menschen Mitglieder einer oder mehrerer alters- oder interessenspezifischen Subkulturen, an denen sie/er teilhat, und durch die und deren Wertvorstellungen sie/er mit beeinflusst wird (und sie umgekehrt mitgestaltet).
Teil dieser soziokulturellen Umwelt ist die Schule mit ihren Bildungsangeboten, Erwartungen und Bildungsaufträgen. Das Entwickeln von (Hoch-)Begabungen kann nun im Feld zwischen dem Vermögen, dem Willen und den Kräften der Selbstgestaltung des Schülers/der Schülerin einerseits und den Ansprüchen und Angeboten der Gesellschaft mit ihren Strukturen und deren Resonanz (Anerkennung) andererseits stattfinden. In Bereichen des schulischen Lernens sind der Unterricht, das Curriculum, die Schule mit ihren Strukturen und die Lehrperson in ihrer Berufsrolle Repräsentanten dieser Außenansprüche und Arrangeure entsprechender Lernangebote. Spezielle Interessen, besondere Potenziale und hohe Begabungen können aber durchaus auch extracurricular sein und die Schule als begabungsfördernde Institution herausfordern (oder gar ersetzen).
Hinsichtlich Begabungsentwicklung und deren Lernprozesse ist zu berücksichtigen, dass Begabungen in individuell unterschiedlichen Inhaltsdomänen und Interessengebieten (auch schwerpunktmäßig) und Ausprägungen auftreten können. Sie finden sich darüber hinaus auf unterschiedlichen Niveaus und zwar jeweils in den «Zonen nächster Entwicklung» (Vygotsky 1978) der einzelnen Personen mit ihren spezifischen Potenzialen und Interessen. Lernen und Hochleistungen bauen einerseits auf subjektivem Vorwissen und Voreinstellungen auf, sofern das neue Wissen als erreichbar und erstrebenswert bewertet wird. Andererseits wird unter der «Zone of proximal development» diejenige Spannbreite verstanden, die mit Hilfe und Unterstützung Fortgeschrittener auf der Basis des bisherigen Wissens erreichbar ist. Da diese Zone nächster Entwicklung an biografisch unterschiedliche (Lern-)Erfahrungen anschließt, sind mit monodimensional angelegten Lehrmethoden nie alle Lernenden einer heterogenen Lerngemeinschaft am Ansatzpunkt ihrer Begabungsentwicklung erreichbar.
Beim Lernen entwickeln die Lernenden eigen-sinnige Wissenskonstruktionen und Verständnisse von Lerninhalten. Dies trifft in besonderem Ausmaß für begabte und kreative Schüler/innen zu. Diese individuellen Verstehenshorizonte können auch als „Lesarten“ eines Lerninhalts bezeichnet werden (Derrida 1974, Forneck 2006). In begabungsfördernden Lernarrangements werden solche Lesarten (subjektive Interpretationen eines Lerninhalts) in der Begegnung mit anderen (Mitlernende, Lehrpersonen, Fachexperten/innen) in Bezug gesetzt zu deren (ebenfalls subjektiven) Verstehensweisen. So kann reflexives Wissen sowie vertieftes Verstehen in sozialer Co-Konstruktion im Rahmen von kooperativen Lernanlässen in der Lerngemeinschaft oder in Lerndialogen mit Lehrpersonen, Experten/innen oder Mentor/innen entstehen. Überall da, wo Lernen über deklaratives Faktenwissen, reproduktives Auswendiglernen und Automatisieren
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hinausgeht, stellen solche Lerndialoge und der damit verbundene Abgleich personaler Lesarten und Verstehensweisen mit anderen oder mit der Lehrperson als Fachperson resp. mit Experten/innen einen bedeutsamen Durchgang dar zur Reflexion des eigenen Lernens und Denkens und zur Fähigkeit Expertise in Dialogen aufzubauen (vgl. dazu auch Bloom’s Taxonomien zu «Higher Order Thinking», 1981).
Zweite Ebene: Das Selbstkonzept als Schlüssel zur Hochleistung
In Anlehnung an G. H. Mead (vgl. „Symbolischer Interaktionismus“: 1913, 1934) wird im Modell unterschieden in Wesenskerne des Individuums (das „Ich“; engl. „I“; der Innenkreis) mit seinen Grundvoraussetzungen und Dispositionen und in das „Selbst“ (engl. „ME“). Dabei wirken das „I“ und das „ME“ zusammen und alle Ausdrucksformen von Individuen beruhen jeweils auf einem Miteinander dieser beiden Instanzen. Dennoch erscheint die Unterscheidung im Zusammenhang mit Begabungsentwicklung dienlich, weil wir damit unterscheiden können in Persönlichkeitsanteile, die als gegebenes Begabungspotenzial verstanden werden und in die sich ausgestaltende Person (das Selbst), die ihre Anlagen durch Umwelt, gelungene Lernprozesse und Eigenaktivität realisieren kann. Dieses „Selbst“ der Person umfasst die aus vorhandenen Anlagen entwickelten, in (Hoch-)Leistung transformierten Begabungspotenziale.
Diesem Teil der Person wird auch das Selbstkonzept einer Persönlichkeit zugeschrieben, das sich zwar auf dem „I“ aufbaut und von den individuellen Ressourcen abhängt, sich aber im Verlauf einer Lebens- und Lerngeschichte erst ausprägt. Das Selbstkonzept kann als Gedächtnisstruktur definiert werden, die alle auf die eigene Person bezogenen Informationen enthält. Sie umfasst unter anderem das Wissen einer Person über die eigenen Kompetenzen, Vorlieben und Überzeugungen (Hannover 1997, Wild 2006). Dieses biografisch erworbene Wissen über die eigene Person ist prägend ist für die Selbstwahrnehmung und das Selbsterleben sowohl von Persönlichkeitseigenschaften («Ich bin ...») wie auch von verhaltensbezogenen Informationen («Ich kann ...»).
Für Lernprozesse generell und insbesondere für die (Hoch-)Begabungsförderung von Kindern und Jugendlichen erscheint unverzichtbar, ihre spezielle Situation („anders als die anderen“), ihr eigenes Lernen und die Reflexion zum eigenen Lernen sowie die (möglichen) Effekte ihrer (Hoch-)Begabung in Bezug zu setzen zu ihrem Selbsterleben, also dem eigenen Selbstkonzept. Minderleistung, Perfektionismus, „Twice Exceptional“ (Hochbegabung bei gleichzeitiger Behinderung) und andere Fehlentwicklungen im Bereich der Begabungsrealisierung stehen in den meisten Fällen in direktem Zusammenhang mit dem Selbstkonzept der betroffenen Personen.
An das Selbstkonzept referieren denn auch die von Renzulli postulierterten co-kognitiven Fähigkeiten einer Person, die er als «intelligences outside the normal curve» oder als «co-cognitive traits» (2002, S. 33) bezeichnet. Damit schließt Renzulli an sein bereits mit seinem dynamischen Drei-Ringe-Modell (1978) formulierte Interdependenz der Begabungsentwicklung zwischen Personenmerkmalen und den das Individuum beeinflussenden sozialen- und Umweltkontexten (Familie, Peers, soziokulturelle Schicht, Schule, Gesellschaft) an. Aufgrund einer breit angelegten Metaanalyse und mehrstufigen Delphi-Befragungen, wurden dazu vom National Research Center on the Gifted and Talented, USA sechs hauptsächliche Schlüsselmerkmale definiert, die in engem Zusammenhang mit dem Selbstkonzept des Menschen stehen und von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Hochleistung sind (Renzulli & Sytsma 2008; Sytsma 2003):
Optimismus (mit den Subkategorien: hope; positive feelings from hard work),
Mut (psychological/intellectual independence; moral convictions),
Hingabe an ein Thema resp. Fach (absorption; passion)- Sensibilität für menschliche Belange (insight; empathy),
Körperliche und geistige Energie (charisma; curiosity)
sowie Zukunftsvision und das Gefühl, eine Bestimmung zu haben (sense of power to change things; sense of direction; pursuit of goals)(vgl. dazu Renzulli & Sytsma 2008, S. 303; Müller-Oppliger 2011; in diesem Buch).
Als Teilkonstrukt ist das «schulische Selbstkonzept» für Lernprozesse von besonderer Bedeutung, also die Einstellung zu sich, seinen Potenzialen, Leistungen und Verhalten im schulischen Lernen. Für die Schule stellt sich deshalb die Frage, ob und wie es ihr gelingt, die Lernenden zu befähigen, ein positives schulisches und über die Schule hinaus führendes Selbstkonzept als Grundlage für deren lebenslanges Lernen aufzubauen.
Dritte Ebene: Fünf Faktoren begabungsfördernder Lernprozesse
Betrachten wir das Begabungsmodell von der lerntheoretischen Seite und aus der Optik der pädagogischen Wirkfelder, dann sind die Aspekte „Emotionen“, „Motivation und Volition“, „Kognition“, Aktion“ und „Reflexion“ für das Gelingen qualifizierter Begabungsförderung ausschlaggebend.
Emotionen als Grundlage gelingender Lernprozesse (Vertrauen):
Über Emotionen wissen wir, dass positive Emotionen (mit seinen Stärken und Schwächen und seiner Herkunft akzeptiert und respektiert zu sein; Wertschätzung und Sicherheit) holistische und kreative Formen des Denkens begünstigen. Spannungsfreie und positiv erlebte Lernsituationen begünstigen «riskantere» und innovativere Wege des Denkens und Handelns.
Demgegenüber ziehen negativ besetzte Lernsituationen, Stresserleben, Prüfungs- oder Versagensangst, Leistungsdruck oder soziale Spannungen, einen eher auf Details fixierten,
weniger beweglichen Denkstil nach sich. Lernen wird in solchen Situationen auf einfache und sicher zu bewältigende Probleme zurückgenommen; experimentelles und exploratives Lernen wird eher vermieden.
Negative Emotionen wie die Angst vor Beschämung oder rivalisierende Vergleiche innerhalb von Lerngruppen (Notensystem mit Sozialbezugsnorm) führen bei einem Großteil von Lernenden zu weniger flexiblem Problemlöseverhalten und weniger differenzierten Denkleistungen. Sie ziehen oft ein auf Sicherheit bedachtes und eher undifferenziertes Auswendiglernen nach sich (Bless & Fiedler 1999, Abele 1996). Die Anerkennung als Mensch mit Stärken und Schwächen ungeachtet der sozialen Herkunft sowie die Sicherheit der Zugehörigkeit und das Recht auf Entwicklung (mit dazugehöriger Fehlerkultur) in einem positiven Lernklima sind die Basis einer auf Selbstvertrauen basierenden Begabungsförderung.
«Volition» als Teil von Motivation» (Selbstwirksamkeit)
Zeitgenössische Motivationstheorien beinhalten den Aspekt des eigenen Entscheids des Lernenden, sich auf Lernprozesse und Anforderungen einzulassen oder sich diesen zu verweigern resp. zu entziehen. Heckhausen (1989) bezeichnet diesen Aspekt des Wollens, der Volition, mit dem „Überschreiten des Rubikon“, nach dessen Entscheid des Lernenden, sich auf eine Sache einzulassen, es keinen Rückzug mehr gibt.
Im Anschluss an Heckhausen nehmen die Selbstwirksamkeitstheorien eine noch pointiertere Position zur Motivation ein (Deci & Ryan, Wild & Krapp 1996; Prenzel et al. 1996; Pintrich, Roeser & DeGroot, 1994). Nach den Erkenntnissen der Selbstbestimmungstheorie ist die Lernmotivation umso höher,
je stärker die Lernenden sich als «Verursacher ihrer Handlungen» erleben,
je mehr sie sich als Person von Lehrpersonen akzeptiert fühlen,
je häufiger sie im Unterricht persönlichen Lernfortschritt (Erfolg) erkennen,
je mehr Wert auf kooperatives Arbeiten und soziale Zugehörigkeit gelegt wird,
je mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten sie wahrnehmen können.
Umgekehrt ist mit umso niedrigerer Motivation zu rechnen,
je stärker Lehrpersonen kontrollierendes Verhalten an den Tag legen,
je weniger Mitbestimmungsmöglichkeiten fürs eigene Lernen eingeräumt werden,
je mehr Leistungsbeurteilung auf Wettbewerb und Konkurrenz im sozialen Vergleich abzielt,
je mehr sich Selektionsentscheide ausschließlich an formal erbrachten Leistungen orientieren.
Deutlich wird dabei, dass Motivation zur (Hoch-)Leistung letztlich auf eigenen Entscheiden (Volition) der Lernenden basiert. Dies in Abwägung der Erwartungen oder Risiken aufgrund der eigenen Lerngeschichte und in enger Verbindung mit dem eigenen Selbstkonzept, der Vorstellung von den eigenen Fähigkeiten und der Erreichbarkeit von Zielen. Damit schließt sich ein wesentlicher Kreis zur Person als Urheber/in der eigenen Begabungsförderung.
Begabungsförderung ist untrennbar verbunden mit Freiräumen zur Selbstgestaltung und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung; mit Interessenleitung und dem Recht auf individuelles Denken, kreative Gedanken und dem subjektiven Erleben, etwas zu leisten zu können, was über normative Vorgaben eines sich an Durchschnittserwartungen oder Lehrbuchlösungen orientierenden Unterrichts.
Kognition (Anschlussfähigkeit)
Neuere Lerntheorien zum Konstruktivismus belegen in Übereinstimmung mit neuropsychologischen Erkenntnissen die Große Bedeutung des Vorwissens für weitergehendes Lernen. Neue Informationen werden jeweils durch bisherige Vorverständnisse und Bedeutungszuschreibungen wahrgenommen, interpretiert oder abgewiesen. Davon ausgehend, dass Wissen individuell konstruiert wird, bedeutet Lernen deshalb, an vorangehendes Wissen anzuschließen, dieses auszudifferenzieren oder gar dekonstruieren und neu organisieren zu müssen. In diesem Sinn ist Lernen immer auch das Erleben von Differenz. Neues wird auf der Folie des Bisherigen bewertet; Bestehendes wird durch neue Impulse und Stimulation irritiert und provoziert und verlangt nach neuer Integration ins eigene Verstehen. Diese Neuorganisation des Wissens ist gebunden an die vorgängig ausgeführte „Zone nächster Entwicklung“ (Vygotsky 1978), in der Lernen optimal stattfinden kann. Dabei gelingt Lernen in der «Zone of Proximal Development» vor allem dann, wenn das biografische Vorwissen aktualisiert und einbezogen wird, wenn die Lernaufgaben herausfordernd sind (ein Schritt über dem bisherigen Verstehenshorizont) und wenn die Lernenden im Lern- oder Ausbildungsprozess von einer Person mit fortgeschrittenem Wissen begleitet werden (, wie dies in Begabungskonzepten bei Mentoren resp. Mentorinnen der Fall ist).
Aktion (Performanz)
Hochleistungen manifestieren sich in aller Regel nicht in der Reproduktion von Wissen (z.B. in schulischen Lernkontrollen) sondern in Handlungen, d.h. in Fähigkeiten, die in Performanz umgesetzt werden, und in Wirkungen, die sie auf ihre Umwelt erzeugen. Entsprechend ist Begabungsförderung bestrebt, Leistungen produktiv sichtbar werden zu lassen: In Präsentationen, Experimenten, Vorführungen, Wettbewerben oder in Projekten mit öffentlicher Beteiligung (z.B. im Bereich des «Service Learning»). Daneben sollten „stille Hochleistungen“ (oft im sozialen, emotionalen oder künstlerischen Bereich) nicht übersehen werden.
Zur Handlungsebene mit dazu gehören das Erlernen von Denk- und Lernstrategien und Lernpraktiken, der Aufbau von Methodenkompetenz (vor allem auch zu forschendem und entdeckendem Lernen), aber auch kommunikative und kooperative Kompetenzen, welche die Präsentation von Leistungen und die Zusammenarbeit mit anderen ermöglichen. Deshalb gewinnen in der jüngsten Forschung zur Begabungsförderung diese sogenannten «executive functions» (Renzulli & Mitchell 2011) zunehmend an Bedeutung.
Reflexion (Selbststeuerung)
Begabungsförderung als Befähigung zu selbstbewusstem lebenslangem Lernen verlangt als Schlüsselqualifikation, das eigene Fühlen, Denken und Handeln wahrzunehmen und in Bezug auf seine (Aus-)Wirkungen einschätzen und selber steuern zu lernen (Schoen 1983, Dewey 1933/2010). Dieser Anspruch auf eigenverantwortliches Agieren und Lernen fordert über das Erlernen von Lerntechniken und Praktiken hinaus die Auseinandersetzung mit den eigenen Lerneinstellungen, allfälligen Widerständen, den Sinnbezügen des Handelns und den damit verbundenen Werten (für die eigene Person und über sich hinausführend).
Neben Selbstlernkompetenzen bilden sich Selbstbewusstsein und ein Bewusstsein für die Wirkungen und Konsequenzen des eigenen Handelns aus. Gerade bei (hoch-)begabten Schüler/innen erscheint diese Reflexion über ihre besonderen Begabungen und deren Umsetzung, der Umgang mit ihrer Situation und ihr Rollenverständnis innerhalb und außerhalb ihrer Lerngruppe (resp. der Gesellschaft) wichtig. Der Aufbau ihres Selbst- und sozialen Situationsbewusstseins muss ein zentraler Aspekt einer auf Personentwicklung angelegten (Hoch- )Begabtenförderung sein.
In diesem Zusammenhang sei auf Ansätze für die praktische Umsetzung wie das „dialogische Lernen“ (Ruf & Gallin 1998), auf den Stellenwert von Lernbegleitung und Mentoring, aber auch auf die den Aufbau von Reflexion und Selbstbewusstsein unterstützenden didaktischen Instrumente wie Lernjournal, Logbuch und Portfolio (vgl. Kap. 2) hingewiesen.
4. Ebene: Begabungen und (Hoch-)Leistung in drei Leistungsdimensionen
Oftmals werden unter Hochbegabung und Hochleistung verkürzt Leistungen im intellektuellen oder kreativ-innovativen Bereich verstanden (z.B. Mathematikwettbewerb, Literaturwettbewerbe, Jugendforscherpreise, künstlerische oder sportliche Wettbewerbe, usw.). Demgegenüber versteht der vorliegende Ansatz Hochleistung in einem breiteren Horizont. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass sich Hochleistungen sowohl in sachbezogener und fachlicher Exzellenz, als auch als überdurchschnittliche soziale und personale Leistungen manifestieren können.
Sachbezogene Exzellenz; fachliche Hochleistung und Performanz
Selbstverantwortliche, reflektierende Persönlichkeit mit wertebezogenem Bewusstsein über
die eigenen Möglichkeiten, das eigene Handeln und dessen Effekte.
Soziale Hochleistung, Leistungen zugunsten der Gemeinschaft/Gesellschaft und altruistische Übernahme von Verantwortung.
Damit erweitert sich die Perspektive der Begabungsförderung von der rein fachlichen und funktionalen Exzellenz auf die persönliche Selbstverwirklichung und Selbstsorge sowie auf Hochleistungen im Bereich der Fürsorge und Solidarität in der Gesellschaft (z.B. Mutter Theresa, Henri Dunant), aber auch sozialer oder politischer Begabungen (Mahatma Gandhi, Eva Peron, Nelson Mandela, u.a.). Diese Ausdehnung der Betrachtungsweise schließt an die Überlegungen zur Selbstsorge und Selbstgestaltung der eigenen Persönlichkeit an (bspw. Martin Luther King, Viktor Frankl) aber auch an die Diskurse zur Bedeutung von co-kognitiven Begabungen, zu „Begabungen als Soziales Kapital“ oder zu „Altruistic Leadership“.
Mit dieser mehrdimensionalen Betrachtungsweise von (Hoch-)leistung sieht diese sich immer wieder mit Sinn- und Wertefragen konfrontiert und zwar mit Bezug auf den einzelnen Menschen und seine mögliche Bestimmung und soziale Eingebundenheit und Anerkennung, wie auch hinsichtlich ihrer Relevanz für die Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur und deren Erneuerung und Weiterentwicklung.
Literatur:
Müller-Oppliger, Victor (2014). Paradigmenwechsel zu einem ökologischen Begabungsmodell. In: Gabriela Weigand, Victor Müller-Oppliger; Armin Hackl; Günther Schmid (Hrsg). Personorientierte Begabungsförderung. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Weinheim, Basel: Beltz Verlag. S. 68-76.