top of page
  • Victor Müller-Oppliger

Drehtürmodell (Revolving Door Model) – ein individuelles und flexibles Begabungsförderkonzept


«Es liegt nicht an den Kindern, den Normen der Schule zu entsprechen; es ist Aufgabe der Schule, der Verschiedenheit der Kinder Rechnung zu tragen.»
(C. Freinet)


Drehtür-Modell nach Renzulli als flexible Begabungsförderung
Drehtür-Modell nach Renzulli als flexible Begabungsförderung

Unter dieses Motto könnte das aussergewöhnlich flexibilierende «Drehtür Modell» zur Förderung von begabten Schülern, die den regulären Unterricht zeitweilig verlassen können, bezeichnet werden.


Der ursprünglich von J. Renzulli eingeführte Begriff des «Revolving Door Model» wird als Bezeichnung für eine flexible Form der Lerngestaltung verwendet, bei der Schüler/innen die Organisation der von ihnen zu bewältigenden Lernaufgaben (begrenzt) in Eigenverantwortung übernehmen. Aufgrund der Feststellung einer besonderen Begabung wird Schülerinnen/Schülern erlaubt, partiell den regulären Unterricht zu ersetzen bzw. sich für eine begrenzte Zeit abzumelden, um sich z.B. einer individuellen Aufgabe widmen zu können, mit einer Mentorin/einem Mentoren zu arbeiten oder Kurse in einer höheren Stufe oder ausserhalb der Schule zu besuchen.


Auch selbstständiges Arbeiten in einem individuellen Projekt oder an eine speziellen Aufgabe für eine bestimmte Zeit kann (wie ein Wahlpflichtbereich) vereinbart werden. Zwischen der Lehrerin/dem Lehrer, deren/dessen Unterricht wegfällt, der Schülerin/dem Schüler selbst und der/dem das Begabtenprogramm verantworteten Lernbegleiter/in – wird eine Art Lernvertrag abgeschlossen, der Folgendes enthalten sollte: Nennung der speziellen Aufgabe und (wenn so organisiert) der begleitenden Lehrperson, Erklärung der Schülerin/des Schülers bezüglich ihrer/seiner Verantwortung für die Beherrschung des Lehrstoffs der regulären Unterrichtsstunden, Art des Nachweises der erbrachten Leistung aus dem individuellen Arbeitsauftrag oder des Rückflusses der Ergebnisse in die Klasse oder Schule (Präsentation u.a.)


Die Bezeichnung «Drehtür-Modell» wurde gewählt, weil der Schüler/die Schülerin zwischen normalem Unterricht und individueller Förderung wechseln kann. Das Modell bietet Platz für vielfältige individuelle und kreative Gestaltungsmöglichkeiten und entspricht in besonderem Mass dem dynamischen Verlauf von Begabungen. Gängig sind zwei Formen der Ausgestaltung in verschiedenen Schulen und Schulsystemen:


1. Drehtürmodell im Sinne der Akzeleration


Der Schüler nimmt in einem Fach, in dem er sehr gute Leistungen zeigt, am Fachunterricht einer höheren Klasse teil. Dazu sind eine geeignete Klasse und das Einverständnis der betroffenen Lehrpersonen erforderlich. Der/die Schüler/in muss diese Förderung wollen und sich einverstanden erklären, die Inhalte der in der eigenen Klasse weggelassenen Lektionen nachzuarbeiten, bzw. sich die Hausaufgaben zu besorgen und diese zu erledigen. Die Eltern müssen sich schriftlich einverstanden erklären. Der Schüler erhält über die erfolgreiche Teilnahme eine Bescheinigung im Zeugnis. Wenn er die Lernkontrollen in der höheren Klasse erfolgreich abgeschlossen hat, kann er auf Wunsch in diesem Fach die Jahresbewertung der höheren Klasse erhalten und dieses Fach in ein Jahr früher abschließen. In höheren Klassen ist möglich, dass Jugendlichen erlaubt wird, an Seminaren der Universität oder an ausserschulischen Förderprogrammen teilzunehmen.


2. Drehtürmodell im Sinne des Enrichment


In der Enrichment-Form wird leistungsstarken und motivierten Schüler/innen erlaubt, anstelle eines bestimmten Fachunterrichts an einem eigenen Projekt (zielgerichtete Freiarbeit) zu arbeiten. Der Schüler arbeitet dabei mehr oder weniger selbstständig und von einer Begabungsfachperson der Schüler die nötigen methodischen Fähigkeiten aufbaut und organisiert – falls angezeigt –entsprechende Kontakte zu ausserschulischen Fachpersonen für die Erreichung der Ziele. Zum Abschluss des Projekts werden die Ergebnisse und der Lernverlauf in geeigneter Weise nachbesprochen, reflektiert und bekannt gemacht (Präsentation).


Das Modell lässt sich in 5 Schritten darstellen:

Schritt 1

Auswahl der Schüler, die besonders intelligent, kreativ oder leistungsfähig sind und häufig im Unterricht unterfordert scheinen.

Schritt 2

Erarbeitung von individuellen Möglichkeiten für jeden Schüler, den Regelunterricht zu straffen z. B. durch Weglassen von Wiederholungsstunden in bestimmten Fächern, durch Vorauslernen in den Ferien oder am Wochenende, usw.Aber: Verpflichtung zur Nachbereitung und zur Teilnahme an den Klassenarbeiten bzw. Klausuren. Das „Normal-Programm“ (Basic Needs) soll sichergestellt sein.

Schritt 3

Wahl eines Mentors/einer Mentorin in Absprache mit den Schülerinnen, Abstimmung des Themas / des Projektes mit dem Mentor/der Mentorin: z.B. weiterer Kurs; Projekt ... mit dem Ziel ..., Belegung der Vorlesung ... an der ..., Teilnahme am Wettbewerb ..., ...

Schritt 4

Der Schüler/Die Schülerin führt ein Lerntagebuch, in dem festgehalten sind:

  • Das Thema, die Ziele, die gewünschte Form der Ergebnisse

  • Die Zeitplanung

  • Die regulären Unterrichtsstunden, die versäumt wurden und die selbständigen Unterrichtsgänge

  • Am Ende jeder Woche ein kurzer Zwischenbericht über erledigte Tätigkeit, neue Ideen,...

  • Das Lerntagebuch kann zum Portfolio ausgebaut werden.

Schritt 5

Der Schüler bringt die Ergebnisse seines Projektes in geeigneter Weise in den Unterricht der eigenen Klasse oder in einer anderen Lerngruppe ein oder präsentiert sie in angemessener Weise der Schulöffentlichkeit.

Wichtig ist, dass die Schritte 1 und 2 mit grosser Sorgfalt ausgeführt werden, um geeignete Schüler auszuwählen und die Programme individuell anzupassen.

Für den Schritt 1 ist es wichtig, geeignete Möglichkeiten zu schaffen, begabte Schüler herauszufinden. Dies sind zum Beispiel:

  • Beobachtung der Schüler/innen im Unterricht

  • Gespräche mit den Lehrer/innen über leistungsfähige Schüler

  • «Scannen“ in Zeugniskonferenzen

  • Gespräche mit Eltern

  • Teilnahme der Schüler an AGs und Ergebnisse von Wettbewerben

  • Ergebnis von (schul-)psychologischen Tests

  • Screeningverfahren der Schule

  • Aber auch «Selbstnomination» durch die Schüler/innen, wenn sie bereit sind, Aussergewöhnliches zu leisten oder zu versuchen.


Schritt 4 erlaubt es dem Schüler, seine eigene «Lerngeschichte» oder «Schulbiographie» schreiben, aufgrund der Lernberatungsgespräche mit Lernenden und Eltern aufbauen. Wir machen damit einen entscheidenden Schritt hin zu selbst reflektierendem, selbst bewusstem und selbst verantwortlichem Lernen.


Für spätere Schuljahre lernen die Jugendlichen damit, ein Leistungsportfolio zu gestalten, das sie z.B. bei der Lehrstellenbewerbung präsentieren können. Einem zukünftigen Arbeitgeber zeigt dies, dass der Schüler bereits während seiner Schulzeit Interessen und Fähigkeiten entwickelt hat, die über den normalen Unterricht mit seinen Pflichtbelegungen hinausgehen.


Schritt 5 stärkt frühzeitig die soziale Kompetenz der Schülerin/des Scjhülers, indem er seine Ergebnisse einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellt und mit ihr in einen Diskussionsprozess eintritt. In diesem Diskussionsprozess entstehen neue Kontakte und der Schüler erhält ein Feedback.


Die verantwortliche Person für das Begabungsförderprogramm leitet und verantwortet den den Ablauf des Drehtür-Modells sowohl organisatorisch als auch inhaltlich. Sie leitet die Vereinbarungen mit den Schüler/innen an und stellt die Koordination zwischen dem Schüler/der Schülerin, deren Eltern und den Klassen-, und Fachlehrpersonen sowie allfälligen Personen der ausserschulischen Begabtenförderung sicher.


Weil der/die Schüler/in in Absprache mit den Lehrpersonen zwischen dem regulären Unterricht und der individuellen Förderung durch Enrichmentprogramm wechseln kann, spricht man vom Drehtür- Modell (Revolving Door Model).


Das herausragende Merkmal des Drehtürmodells – das in verschiedenen Interpretationen in Vergessenheit geraten oder unterschlagen wird - bleibt die schuladministrative und schulorganisatorische Flexibilität, dass einerseits Lernende in sogenannten «sensiblen Phasen» die Gelegenheit erhalten, an speziellen Förderprogrammen teilzunehmen. Andererseits bleiben Lernende, die als besonders leistungsstark erkannt sind, nicht zwangsläufig und ohne Überprüfung wirklich erbrachter Leistung in Förderprogrammen stecken, - auch wenn sie momentan den Willen zu speziellem Einsatz nicht aufbringen.


«Einmal hochbegabt – immer hochbegabt»! berücksichtigt nicht, dass Begabungen dynamisch, interessensgebunden und an den Willen und die eigene Bereitschaft des Einzelnen gebunden sind.


 

Literaturnachweis:


Aus: Müller-Oppliger, V. (2017). Horizonte und Perspektiven der Begabungsförderung. In: Begabungsförderung steigt auf. Begabungsförderung auf der Sekundarstufe I. Hrsg.: Stiftung für hochbegabte Kinder & Mercator Schweiz. Bern: hep-verlag ag.

bottom of page