Bei der Lektüre über die Theorie der Multiplen Intelligenzen (nachfolgend in den Zitaten als «MI» erwähnt) von Howard Gardner, und nach dem äusserst spannenden Input von Dr. Dominik Gyseler zum Thema «Neurowissenschaftliche Grundlagen der Hochbegabung» machte mich ein Satz in den Take-Aways des Abstracts «Abschied vom IQ. Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen» (Gardner 2005) besonders neugierig: «Jede Intelligenz wird von Prozessen im Gehirn gesteuert und ist dort eindeutig lokalisierbar.» Ist das wirklich so?
Wie im Abstract erwähnt, lassen sich Intelligenzforscher in zwei Gruppen einteilen. Während die eine Gruppe von einer generellen Intelligenz ausgehen, glaubt die andere an unabhängige Fähigkeiten. Folglich müsste Kritik am Konzept der Multiplen Intelligenzen vorhanden sein.
Nachfolgend nehme ich Bezug auf einen Text von Lynn Waterhouse, der 2023 publiziert wurde. Der Artikel wurde mir auf Nachfrage von Dr. Dominik Gyseler als Fundamentalkritik an der Theorie der Multiplen Intelligenzen empfohlen. Er bestätigte zudem meinen Verdacht, dass Gardner mittlerweile widerlegt wurde. Das Hauptargument, das er dabei nannte, ist, dass die Intelligenzen von Gardner relativ breit angelegt sind. Will man aber mentale Vorgänge an bestimmten Stellen im Gehirn nachweisen, müssen diese sehr eng gefasst sein. Nur dann gibt es sogenannte «neuronale Korrelate», die wiederholt gemessen werden können. (Gyseler per E-Mail, 30.4.24).
Die Kritik an seiner Theorie ignorierte Gardner erstmal. «For over a decade, I was content to let MI Theorie take on a life of its own. I had issued an ensemble of ideas (or „memes“) to the world, and I was inclined to let those memes fend for themselves.» (Gardner, 2011, S. 79). Später argumentierte Gardner, dass seine Theorie der Multiplen Intelligenzen auf der persönlichen Lektüre von Forschungsergebnissen aus den unterschiedlichsten Bereichen (Neurowissenschaft, Kognitionswissenschaft, Anthropologie und Evolutionswissenschaft) basiere (Gardner and Moran, 2006, S. 229). Doch das erklärte erst die Vorgehensweise, lieferte jedoch nicht die wissenschaftliche Validierung seiner Theorie.
Gardner bat nun die Forscher, seine früheren Publikationen zu lesen, um darin Hinweise für die Gültigkeit seiner Theorie zu finden (Gardner, 2020b). Er erklärte: «there is an entire 400-page book Howard Gardner Under Fire in which I respond to these and other critiques (Shaler, 2006). I would ask that both researchers and educators review these writings and exchanges before connecting the theory that I developed with the provocative, and contentious phrase “neuromyth”» (Gardner, 2020b, S. 3).
Schliessilch distanzierte er sich von seiner ursprünglichen Behauptung, dass seine Theorie der Multiplen Intelligenzen auf einer neurologischen Basis beruht. Er erklärte «while brain evidence was cited in my original work, I have never claimed that “MI” is a neurological theory» (Gardner, 2011, S. 3). Damit widerspricht er sich und seinen früheren Publikationen, wie zum Beispiel dass «jede Intelligenz von Prozessen im Gehirn gesteuert wird und dort lokalisierbar ist.» (Gardner, 2005). Zudem wurden bislang keine neurologischen Korrelate der Intelligenzen im Gehirn gefunden (Waterhouse, 2006; Geake, 2008; Dekker et al., 2012; Howard-Jones, 2014; Ruhaak und Cook, 2018; Blanchette Sarrasin et al., 2019; Craig et al., 2021; Rousseau, 2021b).
Folglich ist und bleibt die Theorie der Multiplen Intelligenzen nach Gardner ein «Neuromythos», bis Forscher die Gültigkeit von «each of the intelligences has its characteristic neural processes» (Gardner, 2020b, S. 94) belegt haben. Bis diese Beweise gefunden worden sind, gibt es keine Argumente für die Überlegenheit der Theorie der Multiplen Intelligenzen gegenüber anderen Lehrstrategien im Klassenzimmer. Dies untermauern auch die folgenden drei Argumente aus der Fundamentalkritik (vgl. Waterhouse, 2023):
Studien haben gezeigt, dass die Intelligenzen nicht unabhängig voneinander funktionieren.
Auch wenn viele Lehrpersonen davon überzeugt sind, dass die Lehrstrategien, die auf den Multiplen Intelligenzen basieren, sehr effektiv sind, wurden diese Strategien bislang noch nicht hinreichend untersucht.
Entgegen der allgemeinen Überzeugung, dass jede Intelligenz im Gehirn lokalisiert werden kann, haben neurowissenschaftliche Forschungen gezeigt, dass die Multifunktionsnetzwerke, in denen das Gehirn organisiert ist, die Möglichkeit separater neuronaler Netzwerke ausschliessen.
Der Artikel spricht noch einige weitere Punkte an, auf die ich an dieser Stelle jedoch nicht näher eingehen möchte. Vielmehr möchte ich an diesem Punkt mit einem persönlichen Fazit abschliessen.
Fazit
Wer mit Gardners Multiplen Intelligenzen arbeitet, sollte sich bewusst sein, dass es sich nicht um eine wissenschaftliche fundierte und allgemein gültige Theorie handelt – und somit nicht «das Mass aller Dinge» ist. Demgegenüber stehen neurowissenschaftlich getestete und als erfolgreich bestätigte Lehrstrategien. So hat die Forschung gezeigt, dass «Wiederholung das Lernen fördert und dass es einen neuartigen „Schalter“ im Gehirn gibt, der die Verarbeitung von etwas Neuem in der Umgebung verbessert» (Gómez -Ocádiz et al., 2022, in: Waterhouse, 2023, S. 4). Wirkungsvoll ist es auch, wenn eine Lehrperson einer Schülerin oder einem Schüler individuelle Aufmerksamkeit schenkt (Schacter, 2000) und neue Informationen spannend vermittelt werden (Perugini et al., 2012; Leventon et al., 2018).
Trotz all der Kritik bieten die Multiplen Intelligenzen vielfältige Orientierungs- und Anknüpfungspunkte für einen stärkeorientierten, begabungsfördernden Unterricht im Sinn von «jedes Kind ist begabt» und «jedes Kind ist anders begabt». Aufgaben, die unter dem Aspekt der Multiplen Intelligenzen vielseitig formuliert werden, ermöglichen eine Lebensnähe für jedes Kind und seine individuelle Begabung. Und damit auch ein persönliches «Wachsen» und «Gedeihen». Essentiell für den Lernerfolg ist jedoch, dass der Einsatz der Multiplen Intelligenzen nur in Verknüpfung mit wissenschaftlich validierten Lehrstrategien erfolgen sollte.
Quelle
Waterhouse L. (2023) Why multiple intelligences theory is a neuromyth. Front. Psychol. 14:1217288. doi: 10.3389/fpsyg.2023.1217288 https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2023.1217288/full
Weitere Literaturhinweise
Blanchette Sarrasin, J., Riopel, M., and Masson, S. (2019). Neuromyths and their origin among teachers in Quebec. Mind Brain Educ. 13, 100–109. https://doi:10.1111/mbe.12193. doi: 10.1111/mbe.12193
Craig, H. L., Wilcox, G., Makarenko, E. M., and Mac Master, F. P. (2021). Continued educational neuromyth belief in pre-and in-service teachers: a call for de-implementation action for school psychologists. Can. J. Sch. Psychol. 36, 127–141. doi: 10.1177/0829573520979605
Dekker, S., Lee, N. C., Howard-Jones, P., and Jolles, J. (2012). Neuromyths in education: review. Front. Psychol. 12:719692. doi: 10.3389/fpsyg.2021.719692
Gómez-Ocádiz, R., Trippa, M., Zhang, C. L., Posani, L., Coco, S., Monasson, R., et al. (2022). A synaptic signal for novelty processing in the hippocampus. Nat. Commun. 13:4122. doi: 10.1038/s41467-022-31775-6
Leventon, J. S., Camacho, G. L., Ramos Rojas, M. D., and Ruedas, A. (2018). Emotional arousal and memory after deep encoding. Acta. Psycholol. 188, 1–8. doi: 10.1016/j.actpsy.2018.05.006
Gardner, H. (2005). Abschied vom IQ. Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen. Klett-Cotta
Gardner, H. (2011). Frames of mind: A theory of multiple intelligences. New York: Basic Books.
Gardner, H. (2020b). «Neuromyths»: a critical consideration. Mind Brain Educ. 14, 2–4. doi: 10.1111/mbe.12229
Geake, J. (2008). Neuromythologies in education. Education Research 50, 123–133. doi: 10.1080/00131880802082518
Howard-Jones, P. A. (2014). Neuroscience and education: myths and messages. Nat. Rev. Neurosci. 15, 817–824. doi: 10.1038/nrn3817
Perugini, A., Laing, M., Berretta, N., Aicardi, G., and Bashir, Z. I. (2012). Synaptic plasticity from amygdala to perirhinal cortex: a possible mechanism for emotional enhancement of visual recognition memory? Eur. J. Neurosci. 36, 2421–2427. doi: 10.1111/j.1460-9568.2012.08146.x
Rousseau, L. (2021b). «Neuromyths» and multiple intelligences (MI) theory: a comment on Gardner (2020). Front. Psychol. 12:720706. doi: 10.3389/fpsyg.2021.720706
Ruhaak, A. E., and Cook, B. G. (2018). The prevalence of educational neuromyths among pre-service special education teachers. Mind Brain Educ. 12, 155–161. doi: 10.1111/mbe.12181
Schacter, J. (2000). Does individual tutoring produce optimal learning? Am. Educ. Res. J. 37, 801–829. doi: 10.3102/00028312037003801
Shaler, J. A. (2006). Howard Gardner under fire: The rebel psychologist faces his critics. Chicago: Open Court.
Waterhouse, L. (2006). Multiple intelligences, the Mozart effect and emotional intelligence: a critical review. Educ. Psychol. 41, 207–225. doi: 10.1207/s15326985ep4104_1