Die Lehrperson übernimmt in Selbstlernarchitekturen die Rolle der stärkenorientierten und begabungsfördernden Lernberatung und Lernbegleitung. Dabei unterscheidet sich die fachliche und überfachliche Lernbegleitung. Während es bei der fachlichen Lernbegleitung vor allem darum geht, fachliche Fragen zu klären, konzentriert sich die überfachliche Lernbegleitung auf die individuellen Lernwege und Lernhaltungen von Lernenden.
Um Lern- und Denkwege sichtbar zu machen, sind Lernjournale zur Reflexion und Portfolios zur Dokumentation des eigenen Lernens essentiell. Die Lernreflexion, also das Nachdenken über das eigene Lernen (Metakognition) und das Sprechen darüber (Metakommunikation) fällt den Lernenden anfangs schwer.
Hier helfen einige anregende Fragen (vgl. Müller-Oppliger 2014, S. 123ff):
«Was ist mir besonders gut gelungen?»
«Worauf bin ich stolz?»
«Wie habe ich die Aufgabe angefangen?»
«Hat sich das bewährt?» «Womit bin ich noch nicht zufrieden?»
«Was macht mir Mühe?»
«Diese Schwierigkeiten und Probleme haben mich beschäftigt …»
«So habe ich sie gelöst …»
«Wenn ich diese Aufgabe nochmals bearbeiten würde, würde ich anders machen, …»
«Ich habe gelernt, dass …»
«Wo habe ich Mut gebraucht?»
«Was habe ich mir kurz vor dem "Mut-Anfall" gesagt oder vorgestellt?»
Besonders aufschlussreich sind Fragen nach dem «Wie» und «Warum». Die Antworten verraten viel über die Denkweise der Lernenden.
Lernbegleitung in der Zone der nächsten Entwicklung
Lernjournale und Portfolios bieten eine wichtige Basis für Lerngespräche und die beratende und unterstützende Lernbegleitung in der «Zone ihrer nächsten Entwicklung» (Vygotski 1978). Die Zone der nächsten Entwicklung bezeichnet die Distanz zwischen dem momentanen Entwicklungsstand der eigenen Problemlösefähigkeit und der potenziellen Entwicklung dieser Problemlösefähigkeit, die mithilfe eines Erwachsenen oder im Peer-Learning erreicht werden kann (Tudge 1990). Um diese Zone individuell zu erkennen und mit Fragen und Impulsen im Sinn von «higher Order questions» anzuregen und herauszufordern, braucht es hohe Leistungserwartungen, einen problemlöseorientierten, klar strukturierten Unterricht, die Balance zwischen Zu-Mutung und Zu-Trauen und eine systematische Beobachtung.
Die Qualität offener Lernsituationen hängt zudem eng mit der Persönlichkeit der Lehrperson, ihren Kompetenzen und ihren Handlungsmustern zusammen. Persönlichkeitsmerkmale wie Neugierde, Sensibilität, Reflexionsfähigkeit sind in diesem Zusammenhang förderlich.
Begabungfördernde Haltung von Lehrpersonen
Die Qualität offener Lernsituationen hängt zudem eng mit der Persönlichkeit der Lehrperson, ihren Kompetenzen und ihren Handlungsmustern zusammen (Lipowsky 2002, S. 146). Persönlichkeitsmerkmale wie Neugierde, Sensibilität, Reflexionsfähigkeit sind in diesem Zusammenhang förderlich.
Lepper, Drake und O‘Donnell-Johnson (1997, S. 130) haben die vielfältigen Kompetenzen einer Lehrperson in ihrem INSPIRE-Modell zusammengefasst:
I | intelligent | Die Lehrkraft verfügt über ein grosses fachwissenschaftliches, (fach-)didaktisches und pädagogisch-psychologisches Wissen, um den Schülerinnen und Schülern vielfältige, auf subjektive Fragen zugeschnittene Hilfestellungen bieten zu können und sie zum Weiterlernen zu motivieren. |
N | nahrhaft | Die Lehrkraft vermag ein positives emotionales Klima zu schaffen, zeigt Interesse an Fragen und traut den Lernenden Fortschritte zu. Ein gutes Verhältnis zwischen der Lerngruppe und der Lehrkraft ist die Grundlage dafür, dass Unterstützungen angenommen werden können. |
S | sokratisch | Die Lehrkraft versteht es, die Schülerinnen und Schüler zu aktivieren wie einst Sokrates seine Gesprächspartner. Sie versteht es, durch offene Fragen zum Nachdenken und zur Lösungssuche zu aktivieren, indem sie Denkanstösse bereithält. Sie gibt selten direkte Hinweise und Erklärungen. |
P | progressiv | Die Lehrkraft versucht, die Anforderungen im Bereich der sogenannten Zone der nächsten Entwicklung (Vygotskij) anzusiedeln. Sie steigert sukzessiv die Anforderungen, sodass die Schülerinnen und Schüler diese gerade noch erfolgreich meistern können. |
I | indirekt | Die Lehrkraft gibt selten negatives Feedback, sondern nutzt Fehler als Ausgangspunkt für weiteres Lernen. Aufgaben werden als herausfordernd deklariert, sodass die Schülerinnen und Schüler Erfolge sich selbst (internale Attribuierung) zuschreiben, Fehler hingegen eher äusseren Faktoren (externale Attribuierung) und sich so als selbstwirksam erfahren können. |
R | reflexiv | Die Lehrkraft nutzt den Austausch mit den Schülerinnen und Schülern, um durch Nachfragen sichtbar zu machen, ob sie die Aufgabe verstanden haben und das erarbeitete Wissen eventuell bereits auf andere Herausforderungen transferieren können. Sie reflektiert gemeinsam mit ihnen die Lösungsprozesse, initiiert Selbsterklärungen, modelliert und initiiert Strategien. |
E | ermutigend | Die Lehrkraft fördert die Selbstwirksamkeit, indem sie die Schülerinnen und Schüler herausfordert und ihnen aufzeigt, was sie bereits leisten können. Sie motiviert durch aktives Fördern von Neugier, Selbstvertrauen und Selbstkontrolle. |
Quellen
Müller-Oppliger, V. (2014): Selbstlernarchitekturen zu selbstgesteuerter Begabungsförderung. In: Weigand, G., Victor Müller-Oppliger, V.; Hackl, A.; Schmid, G.(Hrsg). Personorientierte Begabungsförderung. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Weinheim, Basel: Beltz Verlag. S. 115-127.
Lipowsky, F. (2002): Qualität offener Lernsituationen im Spiegel empirischer Forschungen. Auf die Mikroebene kommt es an. In: Drews, Ursula (Hrsg.); Wallrabenstein, Wulf (Hrsg.): Freiarbeit in der Grundschule. Offener Unterricht in Theorie, Forschung und Praxis. Frankfurt am Main: Grundsch.-Verb. - Arbeitskreis Grundsch. S. 126-159
Lepper, M. R., Drake, M. F. & O’Donnell-Johnson, T. (1997). Scaffolding Techniques of Expert Human Tutors. In K. Hogan & M. Pressley (Hrsg.), Scaffolding student learning: Instructional approaches and issues (S. 108–144). Cambridge MA: Brookline Books.